Simon Spiess Quiet Tree: Euphorbia
Liner Notes
Simon Spiess: Tenorsaxophon
Marc Méan: Klavier & Synthesizer
Jonas Ruther: Schlagzeug
Intakt Records · Release date: January 2024
Recorded in August 2022 at The Zoo Studio in Berne, Switzerland, by Felix Wolf. Production mixing, additional synths and sampling by Dan Nicholls. Mastering by Juho Luukkainen. Produced by Quiet Tree and Intakt Records. Published by Intakt Records. Intakt Records, P.O. Box, 8024 Zürich, Switzerland.
Cover art and graphic design: Fiona Ryan
Liner notes: Luise Wolf
Photo: Roman Gaigg
„Euphorbia“ atmet die Atmosphäre eines Nordic Jazz und hat den Drive amerikanischer Jazz-Größen. Improvisation, elektronische Avantgarde und Jazz-Rock-Psychedelik kreieren eine intensive Fusion. Simon Spiess am Tenorsaxophon, Marc Méan am Flügel sowie am Synthesizer und Jonas Ruther am Schlagzeug teilen als Kollektiv das Vermögen ihr Spiel einem musikalischen Storytelling unterzuordnen. Ihr Sound hat cineastische Qualitäten und transportiert ein Spüren, eine spirituelle Aussage oder Essenz, die starke innere Erzählungen evoziert.
Der erste Song des Albums, „Grieving Was Yesterday“, erzählt vom Ende der Trauer, die nur mehr aus Schmerz besteht; dem Leben, das nicht mehr stillsteht, sondern dem Kommenden offen gegenübersteht. Das Tenorsaxophon singt in hellen Tönen mit viel Atem und großer Sanftheit – die Melodie leicht, nurmehr einen Schatten der vergangenen Dunkelheit mit sich führend. Das Piano trägt mit repetitiven Dreiklängen wie eine Umarmung durch dieses Gefühl. Das Schlagzeug wirkt trotz virtuoser, fieberhafter Spielweise luftig. Dann öffnet sich der Raum – Hall und schwebende Synths erzeugen ein Innehalten. Und das Spiel ergeht sich in leidenschaftliche Improvisation, die nicht Selbstgespräch ist, nicht Präsentation, sondern reines Gefühl … Damit umreißt schon der erste Song die Größe des Albums; es ist Musik-Poesie, die in ihren Elementen simpel und berührend ist, in ihrer Zusammensetzung aber intensiv, in sich verwoben und unergründlich.
Simon Spiess erkundet mit großer Sanftheit die Klänge zwischen Ton und Geräusch. Er lässt sie in rhythmisch und melodisch organischen Bahnen fließen; in den langen Kurven einer Welle oder zitternd-tastenden Schritten. Sein Ansatz lässt das Instrument zuweilen wie etwas Lebendiges erscheinen – sein Timbre wird fast greifbar im Rauschen, in Rauheiten und Spitzen. Der Saxophonist sucht nach den Klängen, die sich nicht nach seinem Instrument anhören.
Um das Außerhalb des Musikalischen in der Musik zu ergreifen, muss ihr Thema einfach sein, es besteht oft aus nicht mehr als einem Motiv. Dabei hat Spiess einen Sinn für universell-schöne Melodien. Und dieses Talent der Schönheit in der Leichtigkeit teilen auch Marc Méan und Jonas Ruther. Gemeinsam schaffen sie dennoch regelrecht psychedelische Gewächse, Rausch in der Ordnung und Repetition – zu hören in „Bleu Foncé“.
Für Marc Méan ist das Tasteninstrument ein ganzes Orchester, das Melodie ebenso wie Harmonik und Rhythmus erschaffen kann. In „Innermost“ spielt er mit einer Hand am Flügel und mit der anderen am Synthesizer „Juno-106“ der Firma Roland. Er verdichtet die harmonische Atmosphäre mit analogen Klangfarbenvariationen, kann aber genauso einen Kontrabass perfekt imitieren. Jonas Ruthers Perkussion hat keinerlei Schwere oder Enge an sich. Da der Rhythmus zwischen ihm und Marc Méan hin und her fließen kann, lässt auch er das Schlagzeug mal zu Rauschen, Atmosphäre oder Melodieinstrument werden.
Gemeinsame Interessen der Musiker schimmern als musikalische Titel, Themen und Effekte in den Stücken auf. Die Pflanzenwelt und die Mythologie, Introspektion und die Aura außermusikalischer Klangumgebungen prägten die drei Musiker, ihr Zusammenwachsen und die Entstehung dieses ersten Albums. „Forest“ führt in die Klangwelt eines elektrifizierten Waldes – tatsächlich zu hören ist das Tenorsaxophon nach seiner Transformation durch die Granularsynthese. „Sø“ – Dänisch für den „See“ – ist eine kleine Unterwasser-Fantasie, die Piano-Töne lautmalerisch als Tropfen und wellende Bewegung in Szene setzt. Gedankliche und musikalische Motive verwachsen in diesen Stücken. Wir hören nicht wie etwas gemacht ist, alles scheint wie aus sich heraus entstanden. „Euphorbia“ ist die lateinische Bezeichnung für die Pflanzengattung Wolfsmilch, die die unterschiedlichsten Gewächse hervorbringt.
Die digitale Produktion des Albums durch Dan Nicholls wiegt wie ein viertes Instrument. Nicholls hinterlässt nicht nur seine Spuren mit Effekten wie Hall und Stereophonie, sondern erzeugt eigene Arrangements, Samples und innovative High- und Lo-fi-Collagen. Er verleiht den Live-Aufnahmen eine transzendente Qualität. Die künstlerische Freiheit Nicholls` zeugt nicht nur von der konzeptionellen Finesse des Ensembles, sondern auch von der künstlerischen Souveränität der Beteiligten. Das musikalische Werk geht über die einzelnen Musiker hinaus und berührt darin den Horizont einer universelleren Sprache.